3. Reform der Arbeitswelt und der Sozial- und Gesundheitssysteme
Die Corona-Krise zeigt: Krisenzeiten wirken wie Katalysatoren bei der weiteren Digitalisierung, Automatisierung und dem starken Ausbau von künstlicher Intelligenz. „Humankapital“ wird zunehmend als unkalkulierbarer Risikofaktor bewertet. Wo Arbeitsplätze wegrationalisiert werden können, wird dies getan. In vielen Wirtschaftsbereichen wird das „Gut Arbeit“ zusehends knapper. Mühsam neu zu generierende Arbeitsfelder werden nicht 1:1 das breite Wegbrechen von Stellen in den jahrzehntelang dominierenden Branchen (Produktion, Bürojobs, Energiewirtschaft u. Ä.) ersetzen.
Die Verwerfungen am Arbeitsmarkt sind wesentlich größer, als die Arbeitslosenquoten erwarten lassen
- Die offiziellen Arbeitsmarktdaten spiegeln nur in geringem Maße die tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie wider. Geht man von der aktuellen Arbeitslosenquote Stand April 2021 von 6,0 % aus, könnte der Eindruck entstehen: „Alles in Butter“. Dem ist jedoch nicht so. Denn neben den statistisch gezählten drei Millionen Arbeitslosen kommen rund eine Million sogenannte „Unterbeschäftigte“ hinzu, die zwar arbeitslos sind, aus diversen Gründen (z. B., weil sie 58 Jahre und älter sind) jedoch nicht mitgezählt werden. Die amtlichen Zahlen schließen zudem eine Million Menschen mit Minijobs, deren 450-Euro-Beschäftigung weggefallen ist, sowie die nicht leistungsberechtigte „stille Reserve“ von ein bis zwei Millionen weiteren Menschen nicht mit ein, ebenso nicht die derzeit ca. drei Millionen kurzarbeitenden Personen. Zählt man all diese Menschen zur offiziellen Arbeitslosenquote hinzu, so sind derzeit zwischen neun und zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger existenziell von der Corona-Krise betroffen beziehungsweise beruflich und finanziell extrem gefährdet.
- Besonders von den pandemischen Auswirkungen betroffen sind Freiberuflerinnen und Freiberufler, Kleingewerbetreibende und Soloselbstständige sowie deren mitarbeitende Familienangehörige, Honorarkräfte, Scheinselbstständige u. a., denen zwar Auffanghilfen seitens des Staates und/oder der Länder recht schnell versprochen wurden, die aber bis dato oftmals nur einen Bruchteil der grundsätzlich zustehenden Mittel tatsächlich erhalten haben. Sie profitieren in der Regel nicht vom staatlichen Arbeitsversicherungssystem, da sie für sich persönlich keine Beiträge entrichtet haben und somit auf öffentliche Sonderhilfen angewiesen sind, die zudem großenteils nur als Darlehen gewährt werden und demnach zurückgezahlt werden müssen. Bei den Hilfen dürfen Großbetriebe und Konzerne, berechnet nach der Anzahl der Arbeitsplätze, den kleinen und mittleren Unternehmen gegenüber nicht bessergestellt werden.
- Die Lage ist mehr als ernst. Die komplizierte Rechtslage insbesondere in unseren Sozialsystemen, die unterschiedlichsten Vorrangigkeits- und Nachrangigkeitsleistungen und die völlige Intransparenz von behördlichen Zuständigkeiten verschärfen diese Situation. Dies wird in Ausnahmezuständen wie diesen besonders deutlich. Besonders benachteiligte Personen wie Behinderte, Ältere oder Langzeitarbeitslose sind als Erste und besonders betroffen.
Die ÖDP streitet für die volle Anerkennung der wichtigen Erziehungs- und Pflegearbeiten im privaten Bereich
- Es gibt „systemrelevante Arbeit“ wie beispielsweise in der professionellen und der privaten Erziehungs-, Kranken-, Pflege- und Betreuungsarbeit, die in den arbeitsmarkt- und den finanzpolitischen Fokus gestellt werden müssen. Immer weiter um sich greifende gewinn-wirtschaftliche Bestrebungen, insbesondere in der professionellen Alten- und Krankenpflege, und eine nicht vorhandene flächentarifliche Bindung von Gehältern und Arbeitsbedingungen verschärfen den ohnehin schon vor Corona offengelegten hochproblematischen Arbeitskräftebedarf in diesem „Wirtschaftszweig“. Eine solide Stützung durch private Pflege von Angehörigen und Nachbarn bedarf einer vollumfänglich und nachhaltig gesicherten finanziellen Absicherung der Pflegenden.
Dringend notwendige Maßnahmen zur Reform unsers sozialen Sicherungssystems
- Steuerfinanzierte Sozialversicherungen für alle Bürgerinnen und Bürger
Den Faktor Arbeit entlasten durch Reduktion der Sozialversicherungsbeiträge und alle Bürgerinnen und Bürger in die Finanzierung des Sozialsystems einerseits einbeziehen, sie andererseits aber in gleichem Maße davon profitieren lassen.
- Zusatzabsicherungen auf Wunsch
Beibehalt privater Zusatzversicherungsmöglichkeiten, wobei die Grundversorgung auf ausreichendem Niveau gesichert sein muss.
- Schnelle, unbürokratische Soforthilfen in der Krise
Direkt auszuzahlende Pauschalhilfen in Notfallzeiten (z. B. in einer Pandemie) anstelle intransparenter Zuständigkeits-, Vorrangig- und Nachrangigkeitsprüfungen für die unterschiedlichen Personengruppen und damit auch Herstellung von Systemtransparenz.
- Steuerfreie Grundpauschale für alle
Eine durch Steuern finanzierte Pauschale, die eine Klimadividende als Kompensation der CO2-Bepreisung beinhaltet (gestaffelte Einführung – langsamer, aber kontinuierlicher Anstieg).
- Sozialleistungen als Individualrecht
Umwandlung des ungerechten und unzeitgemäßen Bedarfsgemeinschaftssystems. Alle grundsätzlichen Hilfen stehen jedem zu, egal ob man alleine oder mit mehreren Personen unter einem Dach lebt.
- Gemeinwohl als Grundlage bei Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik sowie bei Wirtschaftsförderung
Öffentliche Förderungen von Firmen und Vorhaben dort, wo Gemeinwohl und ökologische Belange im Vordergrund stehen und nicht Profit. Insbesondere sind die Pflegeberufe nach diesen Kriterien neu zu bewerten.
- Recht auf Teilhabe am Leben
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, sondern auch davon, wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein. Jeder Mensch muss ein solches Recht auf Teilhabe haben, zum Beispiel über eine sinnvolle Beschäftigung, die ihm soziale Kontakte und Selbstbestätigung ermöglicht.
- Erziehungs- und Pflegegehalt für die familiäre Sorgearbeit
Erziehende und Pflegende erbringen eine Leistung für die Gesellschaft. Dafür müssen sie angemessen entlohnt werden. Ohne diese für die Gesellschaft relevante Arbeit würde unser Sozialsystem kollabieren.
- Zusätzliche Hilfen für besonders unterstützenswerte Personengruppen
Unbürokratische Extra-Hilfen für erwerbsunfähige und erwerbsgeminderte Menschen, Menschen mit Behinderungen sowie für Soloselbstständige, Kleingewerbetreibende, Freiberuflerinnen und Freiberufler und Existenzgründer. Bei den Hilfen dürfen Großbetriebe und Konzerne, berechnet nach der Anzahl der Arbeitsplätze, den kleinen und mittleren Unternehmen gegenüber nicht bessergestellt werden.
Das neue System ist finanzierbar – breit gestreute und damit sichere Finanzierung durch:
- Eine umfassende Entwicklung von Umwelt- und Ressourcensteuern, inkl. CO2-Grenzsteuern.
- Angemessene und sozial gerechte Erhöhung des Spitzensteuersatzes in der Einkommenssteuer.
- Einführung von wirksamen Vermögens- und Spekulationssteuern sowie einer Digitalsteuer.
- Einen folgerichtigen Abbau von Bürokratie- und Verwaltungskosten sowie wegfallende bisherige Leistungen.
Gesundheit
- Unser Gesundheitssystem ist Teil der allgemeinen Daseinsvorsorge und hat ausschließlich dem Menschen zu dienen. Deshalb hat Profit nichts in diesem System zu suchen.
- Wir fordern eine Neuordnung der Finanzierung des gesamten Gesundheitssystems; eine einheitliche und leistungsstarke Krankenversicherung für jede und jeden, auf deren Basis eine private Zusatzversicherung möglich sein kann. Finanzierungslücken sind steuerfinanziert auszugleichen.
- Die dezentrale, wohnortnahe Versorgung sowohl durch Arztpraxen als auch durch Apotheken ist zu gewährleisten.
- Eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, vorzugsweise in der Hand kommunaler Träger und Träger der freien Wohlfahrtspflege, ist sicherzustellen. Unser Krankenhauswesen, ebenso die Pflege und die ärztliche Gesundheitsversorgung vor Ort sind wieder aufzubauen bzw. die vorhandene zu stärken und zu verbessern – keine Krankenhausschließungen mehr.
- Wir fordern die Abschaffung der Fallpauschalen und kostendeckende Bezahlung für die Leistungen von Ärztinnen und Ärzten, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern.
- Wir fordern die Stärkung der Personalsituation, d. h. deutlich mehr Personal, eine deutlich bessere Bezahlung von Pflegekräften und bessere Arbeitsbedingungen im gesamten Gesundheitssektor.
- Rückholung von pharmazeutischer und medizintechnischer Produktion nach Deutschland, um für zukünftige Krisen und Pandemien besser gerüstet zu sein.
- Impfen ist solidarisch. Eine möglichst hohe Impfrate schützt auch jene, die wegen Gegenanzeigen nicht geimpft werden können. Damit Impfungen grundsätzlich freiwillig bleiben können, bedarf es der Aufklärung zu Risiken und Notwendigkeit. Die Einführung einer Impfpflicht in Deutschland ist abzulehnen.