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Zur aktuellen Diskussion um die EU-Sperrklausel
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament soll es nach dem Willen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen bald erneut eine Sperrklausel geben, obwohl eine derartige Maßnahme vom Bundesverfassungsgericht zuletzt als verfassungswidrig eingestuft wurde. Insbesondere bei den kleinen Parteien, die derzeit mit jeweils ein bis zwei Abgeordneten im Europaparlament vertreten sind, ist die Aufregung groß. Für sie sieht es so aus, als ob die großen Parteien gezielt den Willen von Millionen Wählerinnen und Wählern ignorieren wollen, nur um sich auf diese Weise eine unliebsame politische Konkurrenz vom Leibe zu schaffen. In diesem Beitrag sollen die Hintergründe des Vorgangs genauer beleuchtet werden – und zwar einschließlich der verfassungsrechtlichen Dimensionen, auf die es hier entscheidend ankommt.
Bis 2011 galt bei Europawahlen eine Sperrklausel in Höhe von 5 Prozent. Dann stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die damit verbundene Einschränkung der Wahlgleichheit – anders als bei Bundestagswahlen – bei Wahlen zum europäischen Parlament nicht durch einen zwingenden Grund zu rechtfertigen ist. Angesichts der Tatsache, dass schon damals mehr als 160 verschiedene Parteien im EU-Parlament vertreten waren, würden ein paar weitere Kleinparteien aus Deutschland nicht die Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen. Auch die spezifischen Arbeitsbedingungen des Europäischen Parlaments und dessen Aufgabenstellung hat das Gericht berücksichtigt. So wählt das Europäische Parlament ja z.B. keine Regierung, die auf eine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre, und auch die Gesetzgebung ist nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit abhängig.
Nachdem der anschließende Versuch der vier Bundestagsfraktionen, statt der für verfassungswidrig erklärten 5%-Hürde zumindest eine 3%-Sperrklausel einzuführen, im Februar 2014 vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls abgeschmettert wurde, fassten sie den Plan, die Sperrklausel bei EU-Wahlen mittels einer Verschärfung des Direktwahlakts durchzudrücken. Der Direktwahlakt ist sozusagen das Wahlgesetz der Europäischen Union und enthält seit 2002 in Art. 3 die folgende Formulierung: "Für die Sitzvergabe können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle festlegen. Diese Schwelle darf jedoch landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen."
Gemäß dem Wortlaut der Formulierung handelt es sich hierbei lediglich um eine Kann-Regelung und nicht um eine verbindliche Vorgabe. Dies ist ein wichtiger Unterschied: Zwar hat das EU-Recht einen sogenannten Anwendungsvorrang vor nationalem Recht und geht in aller Regel sogar dem nationalen Verfassungsrecht vor; letzteres aber nur dann, wenn das Unionsrecht zwingende Vorgaben enthält. Deshalb stellte das 2011er Urteil des BVerfG zu Recht fest: „Die verfassungsrechtliche Prüfung der deutschen Fünf-Prozent-Sperrklausel ist nicht durch verbindliche europarechtliche Vorgaben eingeschränkt“. Die erwähnten Parteien fassten diesen Passus als Bekräftigung auf, dass es automatisch zu einer Revision des damaligen Urteils führen müsse, wenn sie in den Direktwahlakt eine verbindliche Vorgabe hineinschreiben würden. Das allerdings ist dem zitierten Satz nicht zu entnehmen; vielmehr wird dort vom BVerfG lediglich ausgedrückt, dass in einem solchen Fall die verfassungsrechtliche Prüfung in einer anderen Form hätte stattfinden müssen, was dann möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.
Im Jahr 2018 beschlossen die Institutionen der EU eine entsprechende Änderung von Art. 3 des Direktwahlakts. Die Mitgliedstaaten werden darin verpflichtet, bei Europawahlen eine Sperrklausel von mindestens 2% und höchstens 5% einzuführen und zwar spätestens vor der Wahl zum EU-Parlament, die der ersten Wahl nach dem Inkrafttreten des Beschlusses folgt.
Doch damit allein war es nicht getan. Um in Kraft zu treten, musste der geänderte Direktwahlakt erst einmal von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Bislang haben Spanien und Zypern noch immer nicht unterzeichnet; pikanterweise aber auch Deutschland nicht, weil hier die Grünen eine Zeitlang noch Widerstand leisteten. Doch im Koalitionsvertrag 2021 legten sich SPD, Grüne und FDP wie folgt fest: „Wir unterstützen ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit teils transnationalen Listen und einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem. Wenn bis zum Sommer 2022 kein neuer Direktwahlakt vorliegt, wird Deutschland dem Direktwahlakt aus 2018 auf Grundlage eines Regierungsentwurfes zustimmen.“
Zu diesem Zeitpunkt liefen auf europäischer Ebene bereits emsige Vorbereitungen für ein neues, vereinheitlichtes Wahlgesetz mit aufeinander abgestimmten Wahlterminen, einem einheitlichen Mindestwahlalter, einer Paritätsregelung, länderübergreifenden Listen und vielem mehr. In dem Paket enthalten war auch eine verbindliche Sperrklausel in Höhe von 3,5% (plus eine Ausnahmeregelung von dieser Sperrklausel für Parteien, die europaweit antreten und in mindestens sieben Mitgliedstaaten auf insgesamt mindestens eine Million Stimmen kommen). Das ambitionierte Reformprojekt wurde 2022 vom Europäischen Parlament beschlossen, blieb dann aber – vorhersehbar – beim Rat der Europäischen Union (dem „Ministerrat“) stecken, weil vielen Mitgliedstaaten die vorgeschlagenen Änderungen viel zu weit gingen. Deshalb griffen die Koalitionäre schließlich auf ihren Plan B zurück und holten die 2018er Änderung des Direktwahlakts wieder aus der Mottenkiste hervor, um eine Ratifizierung in Deutschland durchzuführen – frei nach dem Motto: Lieber den 2%-Spatz in der Hand als die 3,5%-Taube auf dem Dach.
Dem Ratifizierungsgesetz müssen sowohl der Bundestag wie auch der Bundesrat zustimmen und zwar beide mit einer Zweidrittelmehrheit ihrer Mitglieder. Denn weil mit der EU-Vorgabe die deutsche Verfassung bzw. Verfassungsrechtsprechung ausgehebelt wird, reicht keine einfache Mehrheit; es bedarf vielmehr einer verfassungsändernden Mehrheit. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts reicht zudem nur so weit, wie es sich um eine zwingende Vorgabe handelt – und weil in diesem Fall lediglich eine Sperrklausel in Höhe von 2% zwingend vorgeschrieben ist und ein höheres Quorum lediglich erlaubt ist, darf auch nur eine 2%-Sperrklausel in das Europawahlgesetz eingeführt werden. Analoges gilt für den Zeitpunkt der Einführung: Weil die 2018er Novelle des Direktwahlakts ausdrücklich eine Einführung zur nächsten oder übernächsten Wahl verlangt, ist eine Einführung bereits zur Wahl 2024 nicht verpflichtend und damit verfassungsrechtlich nicht zulässig, sondern erst die Einführung zur Wahl 2029 – oder ggf. sogar noch später. Denn falls bis zum Wahltermin 2024 noch nicht alle Mitgliedstaaten die Änderung ratifiziert haben, könnte die Sperrklausel sogar erst frühestens zur Europawahl 2034 eingeführt werden.
Viele fragen sich nun offenbar, ob allein durch das Inkrafttreten dieser europaweiten Regelung etwas, was bisher höchstrichterlich als verfassungswidrig eingestuft wurde, plötzlich wieder legitim werden kann? Im Prinzip schon – denn grundsätzlich greift hier der oben erwähnte Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem (Verfassungs-)Recht. Doch es gibt zwei wichtige Ausnahmen, die in diesem Fall durchaus relevant werden könnten. So hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit stets betont, dass in dem Fall, wo ein als unabdingbar gebotener Grundrechtsschutz auf Unionsebene generell nicht gewährleistet wird, dem Gericht ein Recht zur Kontrolle von Grundrechtsverstößen zusteht. Und obwohl es heutzutage fast keine Grundrechte mehr gibt, die nicht auch gleichzeitig durch europäisches Recht abgedeckt sind, ist die Gleichheit der Wahl eine bemerkenswerte Ausnahme. Artikel 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet nämlich: "Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt". Die Garantie einer gleichen Wahl fehlt in dieser Aufzählung und muss dort auch fehlen, weil ja im Vergleich zwischen den Mitgliedstaaten keine Erfolgswertgleichheit der Stimmen gegeben ist (in Deutschland braucht es z.B. für die Erlangung eines Sitzes zehnmal mehr Wähler/innen als in Luxemburg).
Und noch einen weiteren Kontrollvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht für sich reklamiert: Wenn der Kern der deutschen Verfassungsidentität betroffen ist, der in Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, kann das Gericht die Anwendung von Rechtsakten der Europäischen Union in der Bundesrepublik untersagen. Während es fraglich sein dürfte, ob und wo genau eine Sperrhürde gegen die in Art. 1 genannte Menschenwürde verstoßen kann, kommt eine Verletzung des Demokratieprinzips aus Art. 20 sehr wohl in Betracht. Zwar ist nirgendwo eindeutig festgelegt, was der Begriff „Demokratieprinzip“ alles umfasst und was davon zu dessen Kern bzw. was lediglich zur Peripherie gehört… aber die systematische und millionenfache Entwertung von Wählerstimmen ist definitiv keine Petitesse! Sie dürfte tatsächlich von einem derartigen Gewicht sein, dass ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts gegen das geplante Aufgeben demokratischer Grundrechte geboten ist.
Wie die Sache vor Gericht letztlich ausgehen wird, ist jedoch offen. Fest steht nur: Durch die Ratifizierung des Direktwahlakts werden die Karten neu gemischt. Auch wenn nun aufgrund der Verschiebung der juristischen Maßstäbe nicht mehr zwangsläufig von einer Verfassungswidrigkeit auszugehen ist, spricht dennoch einiges dafür, dass auch eine erneute verfassungsrechtliche Prüfung zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit führt.
Auch wird sich erst noch zeigen, ob die politischen Kosten, die die etablierten Parteien zahlen müssen, um künftig im EU-Parlament ein bis zwei Sitze mehr pro Partei zu erhalten, am Ende unverhältnismäßig hoch für sie ausfallen. Wie ein Abgeordneter der Grünen es bereits 2013 in der Bundestagsdebatte zur 3%-EU-Sperrklausel hellsichtig ausdrückte: „Wir sollten uns hier nichts vormachen … wir begeben uns auf dünnes Eis. Das ist so etwas wie ein Ritt über den Bodensee und die vier Fraktionen, die diesen Gesetzentwurf eingebracht haben, können nur hoffen, dass wir am Ende nicht tot wie dieser Reiter sind.“
Die Kleinparteien hingegen hoffen, dass sie aus diesem Konflikt, der aus ihrer Sicht ein existenzbedrohender Affront ist, am Ende lebendiger und gestärkter denn je hervorgehen. Auch der Demokratie allgemein würde es zweifellos gut tun, wenn die bisherige Stimmenvielfalt im europäischen Parlament erhalten bleibt und die ohnehin schon schwächsten Stimmen nicht ganz zum Verstummen gebracht werden.
Björn Benken
(15.06.2023)