Persönlicher Kommentar
Gerechtigkeit als Leitplanke
So verschieden die Antworten von Menschen auf die Frage, was Gerechtigkeit sei, ausfallen, so wichtig ist uns allen, dass wir in einer als gerecht empfundenen Ordnung zusammenleben. Das bedingt eine Balance der individuellen Interessen – eine Aufgabe gerade für die Politik.
Es gilt einen schwierigen Begriff zu werten: Gerechtigkeit. Die einen bezeichnen sie als Grundnorm einer Gesellschaft, die menschliches Miteinander erst ermögliche. Für Skeptiker ist Gerechtigkeit jedoch eher ein „Sammelsurium von Meinungen“, das geprägt davon sei, „an welcher Stelle der Gesellschaft man gerade steht“. Meint wohl: Jeder erklärt Gerechtigkeit am eigenen Status quo und damit im eigenen, individuellen Interesse. Das macht sie als Leitplanke fürs Miteinander weniger tauglich.
In der Tat zerlegen wir Gerechtigkeit heute meist in ihre vielen Einzelfacetten. Das macht den sperrigen Begriff handhabbarer. Es scheint uns einfacher, zu erklären, wie wir es mit der Generationengerechtigkeit, der Chancengerechtigkeit, der Gendergerechtigkeit und der Klimagerechtigkeit halten oder den sozialen Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Gruppen definieren und organisieren. Die Zerstückelung des Gerechtigkeitsbegriffs erleichtert uns Antworten auf die Frage, wie wir erzielen können, was uns wichtig erscheint. Mit der Zerfaserung der Gerechtigkeit in kleine Gerechtigkeitshäppchen erleichtern wir eine Aufgabe, an der wir sonst zu scheitern drohen.
Und doch: Wir setzen alle auf Gerechtigkeit als jenen Maßstab des Ausgleichs, der Spannungen minimiert und Konflikte entschärft. Wir wollen in einer gerechten Welt leben und auch andere Menschen gerecht behandeln (zumindest, wenn wir nicht verroht sind oder als Schurken gelten wollen). Gerechtigkeit setzt aufs Zusammenführen differenter Interessen. Wir müssen sie also immer und vor allem als Prozess verstehen.
Der heutige Internationale Tag der Gerechtigkeit (17. Juli) erinnert an die vertragliche Grundlage des Rom-Status von 1998, mit dem 139 Vertragsstaaten nach mehrwöchigen Verhandlungen in der italienischen Kapitale den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ins Leben riefen. Ihm zu Ehren zelebrieren wir den Tag – was suggeriert, dass Gerechtigkeit auch immer auf einem juristischen Fundament gründet. Allerdings beschreiben Autoren der Bundeszentrale für Politische Bildung, Gerechtigkeit sei „keine objektive, messbare Größe“ - das mindert ihre zu verallgemeinernde Akzeptanz, macht Gerechtigkeit schwer einklagbar.
Für die (politische) Praxis bleibt dies untergeordnet, solange Individuen, wie wir es alle sind, Gerechtigkeit eher ethisch-moralisch begründen. Dann wird sie bei all unseren Aktionen und Interaktionen mit anderen handlungsleitend. Das entbindet uns jedoch nie, uns stetig neu zu fragen, ob unser Handeln (auch vom Gegenüber) als gerecht empfunden wird. Gerechtigkeit zu erzielen wird so zur Daueraufgabe. Wir müssen uns ihr jeden Tag gewissenhaft und neu stellen – nicht nur heute am Gedenktag.